ANOTHER ONE OF BEER'S MINDBUGGINGLY AWESOME AY CARAMBA LISTS, writing

MUSKAT (Gewinnertext des SAITEN Literaturwettbewerbs 2012)

MUSKAT


von Pascal Beer




“…il vide les maisons et remplit les tombes.”


“Bevor ich die Geschichte beginne, mache ich Sie nochmals, und dies ist das letzte Mal in unserer Begegnung, wo ich mich wiederholen soll, auf folgende zwei Punkte aufmerksam.”

Der Mann auf dem Rücksitz strich sich mit einer leichten Drehbewegung durch den langen, spitzig zulaufenden Schnurrbart. Dies war neben den markant dunklen Augenlidern seine einzige Gesichtsbehaarung. Auch die Kopfhaare fehlten gänzlich, schienen nie vorhanden gewesen zu sein. Stattdessen besass die Kopfhaut eine in der Sonne beinahe golden schimmernde Bräune.

“Was auch immer”, entgegnete der Fahrer gleichgültig. Sein stark akzentuiertes Deutsch liess erahnen, dass er noch nicht lange in diesem Land lebte. Oder schon viel zu lange.

Er blickte in den Rückspiegel. Irgendetwas am Aussehen dieses Fremden liess den Fahrer nicht los. Waren es die dunklen Augen? Oder die makellose, straffe Haut, auf der die Zeichen von Zeit völlig fehlten, was diesen Fremden schwer einzuschätzen machten? Er blickte wieder nach vorne, als wolle er sich von der Anziehungskraft lösen, die der Mann auf dem Rücksitz ausstrahlte.

“Wohin soll es denn gehen?”

“Fahren Sie Richtung Westen”, erwiderte der Fremde und strich sich mit leichten Drehbewegungen seinen Schnurrbart steif. 

“Erstens – Sie unterbrechen mich nicht, während ich Ihnen die Geschichte erzähle.”

“Was auch immer, Mann.”

“Haben Sie mich verstanden, Señor Corbas?”

Der Fahrer zuckte leicht zusammen.

“Mein Name ist Dillago”, der Fahrer stupste mit dem Zeigefinger auf einen plastifizierten Ausweis mit Foto und Kleingedrucktem, “Amando Dillago.” Der Zeigefinger tippte weiter auf dem Ausweis rum.

“Aber natürlich sind Sie das, Señor.” Der Fremde blickte durch den Rückspiegel nach vorne, musterte das Gesicht des Fahrers. Schweisstropfen liefen diesem aus seinem schütteren, gekräuselten Haar über die Schläfen, seinen ausgeprägten Kieferknochen und der Hauptschlagader entlang, die unnatürlich stark abstand, runter und verflossen im karierten Blau-rot des Baumwollkragens.

“Vaffanculo”, rief der Fahrer aus, verwarf die Arme und drückte mit beiden Händen auf die Hupe. Der Mann auf dem Rücksitz sass regungslos da, fixierte den Fahrer durch den Rückspiegel. Als es wieder still war, fuhr der Fremde fort.

“Zweitens – ich möchte Ihnen nochmals die Möglichkeit einräumen, von dieser Geschichte abzusehen.” Er pausierte. Ein breites Grinsen brachte eine Reihe schneeweisser Zähne hervor. Die Augen schienen ganz in ihren dunklen, mandelförmigen Höhlen zu versinken.

“Was immer Sie wollen, Mann.”

“Nein, Señor Corbas”, in der Stimme des Fremden schwang plötzlich der Klang von Autorität mit. Der Fahrer zuckte erneut zusammen, blickte zögernd auf seinen plastifizierten Ausweis, der geduldig zu warten schien und dann wieder flüchtig in den Rückspiegel. Die Körpersprache des Fahrers drückte Empörung und Verspannung aus, die er mit einem müden Ausatmen, als sein Blick wieder zurück auf die Strasse glitt, vergebens zum Verschwinden zu bringen versuchte.

“Diesmal müssen Sie sich klar äussern, Señor Corbas. Ja – oder nein.”

“Ist ja gut. Wenn Ihnen das so wichtig ist. Ja, okay. Erzählen Sie mir die verfluchte Geschichte.”

Für einen Sekundenbruchteil veränderte sich der Gesichtsausdruck des Fremden auf dem Rücksitz. Doch dies ging am Fahrer ebenso unbemerkt vorbei wie das Schattenspiel einer tanzenden Kerze dem helllichten Tag.

“Die Geschichte beginnt in einer kleinen, unwichtigen Hafenstadt am Golf von Oman”, begann der Fremde, “diese Stadt sollte später den Übernamen “Stadt des Fallens” kriegen. Aber niemand ausser einer Handvoll Menschen weiss heute noch um den wahren Hintergrund dieses Übernamens. Und die paar Wenigen gäben ihre Geschichte nicht einmal im Angesicht einer glühenden Nadel preis. Jeder einzelne von ihnen würde schweigen –  ein Leben in Dunkelheit wählen.” 

Der Fremde pausierte und strich sich durch seinen schwarzen Schnurrbart. Sein weisses Hemd und seine grauen Hosen waren makellos. Die drückende Hitze in dem nicht klimatisierten Auto schien ihm nichts anzuhaben. 

“Sie beginnen das Ausmass dessen zu erahnen, was ausschliesslich für Ihre Ohren bestimmt ist, Señor Corbas.”

Der Taxifahrer schwieg. Ganz entgegen dem Fremden machte ihm die Hitze schwer zu schaffen. Rund um den Schritt war die dunkle Buntfaltenhose noch dunkler. Das Hemd klebte an den Achselhöhlen fest. Sein Blick glitt ständig zu einem am Rückspiegel baumelnden Amulett. Es hatte etwa die Grösse eines Fünffrankenstücks und bestand aus drei ineinander gelegten Kreisen. Der äusserste Teil, blau durchsichtiges Glas, umfasste einen milchweissen Kreis, in dessen Mitte die schwarze Pupille thronte, die dem Amulett die Erscheinung eines Auges verlieh.

“Nazar”, flüsterte der Taxifahrer jedes Mal, wenn er auf das Amulett blickte. Es hing da, in Griffdistanz, im Akkord mit den kleinen Erschütterungen durch die Schlaglöcher vor sich hin baumelnd.

“Si, Señor.”

Der Fremde lächelte unmerklich, strich sich mit seiner Linken durch den Schnurrbart.
“Wir treffen dort einen Mann. Der Name dieses, unseres Mannes, nun – dieser Name darf sehr wohl genannt werden.” Er hielt kurz inne, schien den Moment abzuwarten, dann legte er den Namen auf den Atem, der aus seinen Tiefen empor strömte. 

“Muskat.” 

Dann war es still. 

Nur das monotone Geräusch von Rädern auf Asphalt war zu hören.

“Was für ein klingender Name. Muskat”, sprach er und schien diesem Namen einen geheimnisvollen, alten Klang einzuhauchen.

“Sie sehen, Señor Corbas, jeder Mensch erzählt eine Geschichte. Und es rinnt und rinnt und rinnt der Sand – und die Menschen verbringen ihr ach so kurzes Dasein damit, in dem riesigen Berg an Scheisse, Sie verzeihen mir den Ausdruck, zu wühlen und nach einer von diesen – einer wahren Geschichte – zu suchen. Ist es nicht Ironie des Schicksals? Wenn sie diese eine Geschichte dann endlich – aber nicht doch. Ich schweife ab. Verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit. Unser Freund Muskat hat auch eine Geschichte zu erzählen, und zwar eine jener, die in dem stinkenden Scheisshaufen von Lug und Trug ein jeder zu finden erhofft.” Der Fremde deutete ein selbstgefälliges Lächeln an. Ein unmerklicher Hauch. Ein Grashalm erzittert leise. Und der Wind war nie da.

Der Fahrer griff sich in die Westentasche und zog ein Tuch hervor, mit dem er sich den kalten Schweiss von der Stirn, den Schläfen entlang und den Hals runter bis zum Kragen seines Hemdes abwischte.

Wo zum Teufel soll ich bloss hinfahren, dachte er sich und blickte nervös in den Rückspiegel.

Fast im selben Augenblick fiel ein einzelner Tropfen auf die Windschutzscheibe. Dann drei weitere. In der Zeitspanne eines Wischs von der Stirn bis zum Hals und dem Wegstecken eines Taschentuchs hämmerte ein Platzregen aus dem dunklen Vorhang auf das Auto nieder, das sich in dieser Szenerie verloren nach Westen bewegte.

Der Fahrer stellte die Scheibenwischer ein und erinnerte sich in dem Moment daran, dass er die Scheibenwischergummis hätte auswechseln müssen.

“Muskat bewegte sich in die kleine Hafenstadt wie ein heisses Messer durch Butter. Dies war im Jahr 1507. Die Stadt wurde danach ihm zu Ehren in Muskat umbenannt. Kurze Zeit später sollte diese in die Hände portugiesischer Piraten fallen, die einen grossen Teil der Stadt zerstören, plündern und ihre Saat über diese fremde Erde verspritzen würden. Die Stadt ist heute nicht mehr unter dem Namen Muskat bekannt. Wie könnte sie auch. Wie hätten die Seelen der Zeugen aus Jahrhunderten, die um die tatsächlichen Geschehnisse wussten, bei diesem Gedanken jemals Frieden finden können?

Das Auto fuhr in die schwarz-graue Wand aus Regen, Blitz und Donner. Der Fahrer musste sich nach vorne lehnen, um die Strasse in dieser plötzlich aufgekommenen Dunkelheit noch sehen zu können. Sein Blick glitt zum Rückspiegel. Wieder zurück auf die Strasse. Das Talisman tanzte den Walkürenritt aus Wasser und Feuer frenetisch mit.

“Nazar”, flüsterte der Fahrer leise vor sich hin. Nazar. Immer wieder. Nazar.

“Fahren Sie auf dieser Strasse weiter.”

Als ob ich eine andere Wahl hätte, bewegte der Fahrer wortlos seine Lippen.

“Si, Señor.”

“In der Stadt wohnte, in einem Winkel, für den die Sonne Morgens nicht aufging, eine Frau. Gleich wie dieser Teil der Stadt gemieden wurde, wurden alle, die in diesem Stadtteil wohnten oder verkehrten, gemieden. Diese Leute wiederum mieden die besagte Frau. Muskat erreichte die Schwelle ihres Heims auf direktem Weg. Er schenkte Begrüssungsformen, wie es in jeder Kultur ermüdend viele gibt, keine Beachtung und trat ein.

Im Raum tanzten die Geister verschiedenster lichter und dunkler Zeitalter miteinander einen wilden Reigen. Symbole der Ägypter, Sumerer, Etrusker, Mesopotamier und unbekannter, versunkener Kulturen hingen an den Wänden, waren ins Holz der Balken geritzt, schmückten braune Tontafeln. Sprüche in den Sprachen dieser und anderer Welten, bekannt, unbekannt, verloren, vergessen, verboten, waren hier auf Papyrus geschrieben, dort auf Felle gezeichnet oder in kunstvollen Ornamenten auf Eier geritzt.

Obwohl die Zeit des Tages die Sonne im Zenit hielt, war dieser Raum von einem Schatten eingenommen – gehörte diesem Raum eine lauernde Dunkelheit. Die Quelle dieser Dunkelheit sass in der fernen Ecke des Raumes auf einem Schemel, in eine schwarze Burka gekleidet. Von hinter dem schwarzen Schleier waren zwei Abgründe auf Muskat fixiert.

“Muskat”, zischte es aus der Dunkelheit. Es klang, als würde Galle gespuckt, “so bist du letzten Endes doch gekommen.”

Unheil thronte im Raume. Blickte aus einem Gerichtsstand, der dem Recht von Wort über Blut folgte, auf die Gestalt in Schwarz nieder.

“Ich komme immer, wenn die Zeit reif ist”, sagte Muskat.

“So sagst du”, antwortete der Schatten und lachte giftig.

“Dir ist ja gewahr, dass du die einzige bist, die ich ein zweites Mal besuchen muss.”

“Du bist leider nicht der einzige, der mich nur als Frau gesehen hat.”

Muskat strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Oberlippe und atmete langsam ein. Dann blickte er die Frau an. Blickte durch ihre Augen – tief in sie hinein.

Die Frau erhob sich gleichzeitig von ihrem Schemel, öffnete ihre Handflächen und schloss die Augen für einen kurzen Moment. Dann heftete sie ihren Blick auf Muskat – öffnete die Fenster zu seiner Seele – stieg in ihn hinein.

Hier, an einem dunklen Ort in einem dunklen Quartier einer Stadt, die bald nicht mehr sein würde, begegneten sich zwei Blicke, die beide die Ewigkeit gesehen hatten. Was gibt es da noch zu erzählen?

Muskat verliess die Hütte, verliess die Stadt, das Land und wandte sich dem Norden zu. Die nächste Begegnung.

Zurück blieb die schwarze Burka von jemandem, der einen Blick in die Ewigkeit geworfen hatte. Und auch davon blieb nichts übrig.”

Der Fremde blickte den Fahrer an. Dessen Hände klammerten sich am Lenkrad wie an einem Rettungsring fest. Das blutlose Weiss auf seinen Handrücken verdrängte alle Anzeichen von Gesundheit und breitete sich langsam über seine Arme aus.

“Señor Corbas?”

“Was?”, sagte der Taxifahrer verdutzt, liess für einen Augenblick das Steuerrad los.

“Hab ich Sie jetzt grad von einem anderen Ort zurückgeholt?” Das Lachen des Fremden war eines aus Leichtigkeit und Spott.

“Das täte mir Leid. Auf jeden Fall habe ich mir vorgenommen, vorsichtiger zu sein. Sie verstehen, in falschen Händen kann diese Geschichte eine verheerende Wirkung haben.” Er schmunzelte, “Dies war meine, sagen wir mal – Lektion in Sachen…”

“Genug!”, fuhr der Fahrer ihn an. Er riss das Amulett vom Rückspiegel runter und umschloss es mit seiner verschwitzten Hand. “Hören Sie sofort auf damit! Ich will nichts mehr hören. Ich will Ihre Geschichte nicht hören.”

“Ach, kommen Sie schon, Señor Corbas. Sie müssen doch zugeben, dass ich Ihre ganze Aufmerksamkeit hatte.” Der Fremde lächelte amüsiert. “Spass beiseite, ich…”

“Nein!”, schrie der Fahrer, stampfte auf die Bremse und brachte den Wagen, der auf der sandigen Strasse nach links und rechts ausbrach, nach längerem Rutschen zum Stehen.

“Steigen Sie aus! Sofort!” Der Fahrer starrte den Fremden mit panischem Blick an. Dieser erwiderte den Blick erstaunt.

“Es, es tut mir Leid, Señor. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich meine, ist alles in…”

“Raus! Sofort!”

“Aber Señor, gestatten Sie mir wenigsten, Ihnen die Fahrtkosten zu vergüten.”

Der Fahrer blickte das erste Mal auf seine Taxiuhr. Ein Schauer durchfuhr seine Glieder.

“Das ist nicht möglich. Das ist nicht möglich”, stammelte er. “Das, das ist…, wie…, wo…, das ist nicht möglich?”

Der Regen hatte aufgehört. Dunkle Wolken belagerten den Himmel, als das Taxi in Richtung Horizont davon raste.

Der Fremde blickte dem davonfahrenden Auto nach und strich sich mit der linken Hand durch seinen schwarzen, spitz zulaufenden Schnurrbart. Er griff in seine Hosentasche und nahm eine goldene Schachtel hervor. Aus dieser nahm er eine braune Zigarillo, zündete sie an und zog genüsslich daran. Mit einer grazilen Bewegung nahm er die Zigarillo aus dem Mund, blies den Rauch aus und schmunzelte.

“Ich will Ihre Geschichte nicht hören, ich will Ihre Geschichte nicht hören”, mimte der Fremde eine mädchenhafte Stimme und verwarf seine linke Hand mit der Zigarillo leicht nach hinten. “Dabei, Hernando Corbas, kennst du die Geschichte schon längst. Und nun renn und verkünde ihr die frohe Botschaft.”

Wie der Nachruf des vergangenen Schauers erklang es. Zuerst nur einmal. Dann deren drei. Und es dauerte, dass man sich den den kalten Schweiss von der Stirn wischt, bis der Fremde herauslachte. Laut und schrecklich. Er lachte und lachte. Und sein Lachen hallte durch den Olivenhain und verlor sich am Horizont, der wie ein böser Traum den Tag verdunkelte.

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One thought on “MUSKAT (Gewinnertext des SAITEN Literaturwettbewerbs 2012)”

  1. Lieber Leser: Falls Dir die Geschichte gefallen hat, klick doch aus lauter Freude auf die beiden Werbungen!

    …und falls du den Text Scheisse fandest, lass ein bisschen Dampf ab, indem du so lange auf Werbungen klickst, bis deine Maus im Eimer oder ich Millionär bin!

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