MUSKAT
von Pascal Beer
“…il vide les maisons et remplit les tombes.”
“Bevor ich die Geschichte beginne, mache ich Sie nochmals, und dies ist das letzte Mal in unserer Begegnung, wo ich mich wiederholen soll, auf folgende zwei Punkte aufmerksam.”
Der Mann auf dem RĂŒcksitz strich sich mit einer leichten Drehbewegung durch den langen, spitzig zulaufenden Schnurrbart. Dies war neben den markant dunklen Augenlidern seine einzige Gesichtsbehaarung. Auch die Kopfhaare fehlten gĂ€nzlich, schienen nie vorhanden gewesen zu sein. Stattdessen besass die Kopfhaut eine in der Sonne beinahe golden schimmernde BrĂ€une.
“Was auch immer”, entgegnete der Fahrer gleichgĂŒltig. Sein stark akzentuiertes Deutsch liess erahnen, dass er noch nicht lange in diesem Land lebte. Oder schon viel zu lange.
Er blickte in den RĂŒckspiegel. Irgendetwas am Aussehen dieses Fremden liess den Fahrer nicht los. Waren es die dunklen Augen? Oder die makellose, straffe Haut, auf der die Zeichen von Zeit völlig fehlten, was diesen Fremden schwer einzuschĂ€tzen machten? Er blickte wieder nach vorne, als wolle er sich von der Anziehungskraft lösen, die der Mann auf dem RĂŒcksitz ausstrahlte.
“Wohin soll es denn gehen?”
“Fahren Sie Richtung Westen”, erwiderte der Fremde und strich sich mit leichten Drehbewegungen seinen Schnurrbart steif.
“Erstens – Sie unterbrechen mich nicht, wĂ€hrend ich Ihnen die Geschichte erzĂ€hle.”
“Was auch immer, Mann.”
“Haben Sie mich verstanden, Señor Corbas?”
Der Fahrer zuckte leicht zusammen.
“Mein Name ist Dillago”, der Fahrer stupste mit dem Zeigefinger auf einen plastifizierten Ausweis mit Foto und Kleingedrucktem, “Amando Dillago.” Der Zeigefinger tippte weiter auf dem Ausweis rum.
“Aber natĂŒrlich sind Sie das, Señor.” Der Fremde blickte durch den RĂŒckspiegel nach vorne, musterte das Gesicht des Fahrers. Schweisstropfen liefen diesem aus seinem schĂŒtteren, gekrĂ€uselten Haar ĂŒber die SchlĂ€fen, seinen ausgeprĂ€gten Kieferknochen und der Hauptschlagader entlang, die unnatĂŒrlich stark abstand, runter und verflossen im karierten Blau-rot des Baumwollkragens.
“Vaffanculo”, rief der Fahrer aus, verwarf die Arme und drĂŒckte mit beiden HĂ€nden auf die Hupe. Der Mann auf dem RĂŒcksitz sass regungslos da, fixierte den Fahrer durch den RĂŒckspiegel. Als es wieder still war, fuhr der Fremde fort.
“Zweitens – ich möchte Ihnen nochmals die Möglichkeit einrĂ€umen, von dieser Geschichte abzusehen.” Er pausierte. Ein breites Grinsen brachte eine Reihe schneeweisser ZĂ€hne hervor. Die Augen schienen ganz in ihren dunklen, mandelförmigen Höhlen zu versinken.
“Was immer Sie wollen, Mann.”
“Nein, Señor Corbas”, in der Stimme des Fremden schwang plötzlich der Klang von AutoritĂ€t mit. Der Fahrer zuckte erneut zusammen, blickte zögernd auf seinen plastifizierten Ausweis, der geduldig zu warten schien und dann wieder flĂŒchtig in den RĂŒckspiegel. Die Körpersprache des Fahrers drĂŒckte Empörung und Verspannung aus, die er mit einem mĂŒden Ausatmen, als sein Blick wieder zurĂŒck auf die Strasse glitt, vergebens zum Verschwinden zu bringen versuchte.
“Diesmal mĂŒssen Sie sich klar Ă€ussern, Señor Corbas. Ja – oder nein.”
“Ist ja gut. Wenn Ihnen das so wichtig ist. Ja, okay. ErzĂ€hlen Sie mir die verfluchte Geschichte.”
FĂŒr einen Sekundenbruchteil verĂ€nderte sich der Gesichtsausdruck des Fremden auf dem RĂŒcksitz. Doch dies ging am Fahrer ebenso unbemerkt vorbei wie das Schattenspiel einer tanzenden Kerze dem helllichten Tag.
“Die Geschichte beginnt in einer kleinen, unwichtigen Hafenstadt am Golf von Oman”, begann der Fremde, “diese Stadt sollte spĂ€ter den Ăbernamen “Stadt des Fallens” kriegen. Aber niemand ausser einer Handvoll Menschen weiss heute noch um den wahren Hintergrund dieses Ăbernamens. Und die paar Wenigen gĂ€ben ihre Geschichte nicht einmal im Angesicht einer glĂŒhenden Nadel preis. Jeder einzelne von ihnen wĂŒrde schweigen – ein Leben in Dunkelheit wĂ€hlen.”
Der Fremde pausierte und strich sich durch seinen schwarzen Schnurrbart. Sein weisses Hemd und seine grauen Hosen waren makellos. Die drĂŒckende Hitze in dem nicht klimatisierten Auto schien ihm nichts anzuhaben.
“Sie beginnen das Ausmass dessen zu erahnen, was ausschliesslich fĂŒr Ihre Ohren bestimmt ist, Señor Corbas.”
Der Taxifahrer schwieg. Ganz entgegen dem Fremden machte ihm die Hitze schwer zu schaffen. Rund um den Schritt war die dunkle Buntfaltenhose noch dunkler. Das Hemd klebte an den Achselhöhlen fest. Sein Blick glitt stĂ€ndig zu einem am RĂŒckspiegel baumelnden Amulett. Es hatte etwa die Grösse eines FĂŒnffrankenstĂŒcks und bestand aus drei ineinander gelegten Kreisen. Der Ă€usserste Teil, blau durchsichtiges Glas, umfasste einen milchweissen Kreis, in dessen Mitte die schwarze Pupille thronte, die dem Amulett die Erscheinung eines Auges verlieh.
“Nazar”, flĂŒsterte der Taxifahrer jedes Mal, wenn er auf das Amulett blickte. Es hing da, in Griffdistanz, im Akkord mit den kleinen ErschĂŒtterungen durch die Schlaglöcher vor sich hin baumelnd.
“Si, Señor.”
Der Fremde lÀchelte unmerklich, strich sich mit seiner Linken durch den Schnurrbart.
“Wir treffen dort einen Mann. Der Name dieses, unseres Mannes, nun – dieser Name darf sehr wohl genannt werden.” Er hielt kurz inne, schien den Moment abzuwarten, dann legte er den Namen auf den Atem, der aus seinen Tiefen empor strömte.
“Muskat.”
Dann war es still.
Nur das monotone GerÀusch von RÀdern auf Asphalt war zu hören.
“Was fĂŒr ein klingender Name. Muskat”, sprach er und schien diesem Namen einen geheimnisvollen, alten Klang einzuhauchen.
“Sie sehen, Señor Corbas, jeder Mensch erzĂ€hlt eine Geschichte. Und es rinnt und rinnt und rinnt der Sand – und die Menschen verbringen ihr ach so kurzes Dasein damit, in dem riesigen Berg an Scheisse, Sie verzeihen mir den Ausdruck, zu wĂŒhlen und nach einer von diesen – einer wahren Geschichte – zu suchen. Ist es nicht Ironie des Schicksals? Wenn sie diese eine Geschichte dann endlich – aber nicht doch. Ich schweife ab. Verzeihen Sie meine GeschwĂ€tzigkeit. Unser Freund Muskat hat auch eine Geschichte zu erzĂ€hlen, und zwar eine jener, die in dem stinkenden Scheisshaufen von Lug und Trug ein jeder zu finden erhofft.” Der Fremde deutete ein selbstgefĂ€lliges LĂ€cheln an. Ein unmerklicher Hauch. Ein Grashalm erzittert leise. Und der Wind war nie da.
Der Fahrer griff sich in die Westentasche und zog ein Tuch hervor, mit dem er sich den kalten Schweiss von der Stirn, den SchlÀfen entlang und den Hals runter bis zum Kragen seines Hemdes abwischte.
Wo zum Teufel soll ich bloss hinfahren, dachte er sich und blickte nervös in den RĂŒckspiegel.
Fast im selben Augenblick fiel ein einzelner Tropfen auf die Windschutzscheibe. Dann drei weitere. In der Zeitspanne eines Wischs von der Stirn bis zum Hals und dem Wegstecken eines Taschentuchs hÀmmerte ein Platzregen aus dem dunklen Vorhang auf das Auto nieder, das sich in dieser Szenerie verloren nach Westen bewegte.
Der Fahrer stellte die Scheibenwischer ein und erinnerte sich in dem Moment daran, dass er die Scheibenwischergummis hĂ€tte auswechseln mĂŒssen.
“Muskat bewegte sich in die kleine Hafenstadt wie ein heisses Messer durch Butter. Dies war im Jahr 1507. Die Stadt wurde danach ihm zu Ehren in Muskat umbenannt. Kurze Zeit spĂ€ter sollte diese in die HĂ€nde portugiesischer Piraten fallen, die einen grossen Teil der Stadt zerstören, plĂŒndern und ihre Saat ĂŒber diese fremde Erde verspritzen wĂŒrden. Die Stadt ist heute nicht mehr unter dem Namen Muskat bekannt. Wie könnte sie auch. Wie hĂ€tten die Seelen der Zeugen aus Jahrhunderten, die um die tatsĂ€chlichen Geschehnisse wussten, bei diesem Gedanken jemals Frieden finden können?
Das Auto fuhr in die schwarz-graue Wand aus Regen, Blitz und Donner. Der Fahrer musste sich nach vorne lehnen, um die Strasse in dieser plötzlich aufgekommenen Dunkelheit noch sehen zu können. Sein Blick glitt zum RĂŒckspiegel. Wieder zurĂŒck auf die Strasse. Das Talisman tanzte den WalkĂŒrenritt aus Wasser und Feuer frenetisch mit.
“Nazar”, flĂŒsterte der Fahrer leise vor sich hin. Nazar. Immer wieder. Nazar.
“Fahren Sie auf dieser Strasse weiter.”
Als ob ich eine andere Wahl hÀtte, bewegte der Fahrer wortlos seine Lippen.
“Si, Señor.”
“In der Stadt wohnte, in einem Winkel, fĂŒr den die Sonne Morgens nicht aufging, eine Frau. Gleich wie dieser Teil der Stadt gemieden wurde, wurden alle, die in diesem Stadtteil wohnten oder verkehrten, gemieden. Diese Leute wiederum mieden die besagte Frau. Muskat erreichte die Schwelle ihres Heims auf direktem Weg. Er schenkte BegrĂŒssungsformen, wie es in jeder Kultur ermĂŒdend viele gibt, keine Beachtung und trat ein.
Im Raum tanzten die Geister verschiedenster lichter und dunkler Zeitalter miteinander einen wilden Reigen. Symbole der Ăgypter, Sumerer, Etrusker, Mesopotamier und unbekannter, versunkener Kulturen hingen an den WĂ€nden, waren ins Holz der Balken geritzt, schmĂŒckten braune Tontafeln. SprĂŒche in den Sprachen dieser und anderer Welten, bekannt, unbekannt, verloren, vergessen, verboten, waren hier auf Papyrus geschrieben, dort auf Felle gezeichnet oder in kunstvollen Ornamenten auf Eier geritzt.
Obwohl die Zeit des Tages die Sonne im Zenit hielt, war dieser Raum von einem Schatten eingenommen – gehörte diesem Raum eine lauernde Dunkelheit. Die Quelle dieser Dunkelheit sass in der fernen Ecke des Raumes auf einem Schemel, in eine schwarze Burka gekleidet. Von hinter dem schwarzen Schleier waren zwei AbgrĂŒnde auf Muskat fixiert.
“Muskat”, zischte es aus der Dunkelheit. Es klang, als wĂŒrde Galle gespuckt, “so bist du letzten Endes doch gekommen.”
Unheil thronte im Raume. Blickte aus einem Gerichtsstand, der dem Recht von Wort ĂŒber Blut folgte, auf die Gestalt in Schwarz nieder.
“Ich komme immer, wenn die Zeit reif ist”, sagte Muskat.
“So sagst du”, antwortete der Schatten und lachte giftig.
“Dir ist ja gewahr, dass du die einzige bist, die ich ein zweites Mal besuchen muss.”
“Du bist leider nicht der einzige, der mich nur als Frau gesehen hat.”
Muskat strich sich mit Daumen und Zeigefinger ĂŒber die Oberlippe und atmete langsam ein. Dann blickte er die Frau an. Blickte durch ihre Augen – tief in sie hinein.
Die Frau erhob sich gleichzeitig von ihrem Schemel, öffnete ihre HandflĂ€chen und schloss die Augen fĂŒr einen kurzen Moment. Dann heftete sie ihren Blick auf Muskat – öffnete die Fenster zu seiner Seele – stieg in ihn hinein.
Hier, an einem dunklen Ort in einem dunklen Quartier einer Stadt, die bald nicht mehr sein wĂŒrde, begegneten sich zwei Blicke, die beide die Ewigkeit gesehen hatten. Was gibt es da noch zu erzĂ€hlen?
Muskat verliess die HĂŒtte, verliess die Stadt, das Land und wandte sich dem Norden zu. Die nĂ€chste Begegnung.
ZurĂŒck blieb die schwarze Burka von jemandem, der einen Blick in die Ewigkeit geworfen hatte. Und auch davon blieb nichts ĂŒbrig.”
Der Fremde blickte den Fahrer an. Dessen HĂ€nde klammerten sich am Lenkrad wie an einem Rettungsring fest. Das blutlose Weiss auf seinen HandrĂŒcken verdrĂ€ngte alle Anzeichen von Gesundheit und breitete sich langsam ĂŒber seine Arme aus.
“Señor Corbas?”
“Was?”, sagte der Taxifahrer verdutzt, liess fĂŒr einen Augenblick das Steuerrad los.
“Hab ich Sie jetzt grad von einem anderen Ort zurĂŒckgeholt?” Das Lachen des Fremden war eines aus Leichtigkeit und Spott.
“Das tĂ€te mir Leid. Auf jeden Fall habe ich mir vorgenommen, vorsichtiger zu sein. Sie verstehen, in falschen HĂ€nden kann diese Geschichte eine verheerende Wirkung haben.” Er schmunzelte, “Dies war meine, sagen wir mal – Lektion in Sachen…”
“Genug!”, fuhr der Fahrer ihn an. Er riss das Amulett vom RĂŒckspiegel runter und umschloss es mit seiner verschwitzten Hand. “Hören Sie sofort auf damit! Ich will nichts mehr hören. Ich will Ihre Geschichte nicht hören.”
“Ach, kommen Sie schon, Señor Corbas. Sie mĂŒssen doch zugeben, dass ich Ihre ganze Aufmerksamkeit hatte.” Der Fremde lĂ€chelte amĂŒsiert. “Spass beiseite, ich…”
“Nein!”, schrie der Fahrer, stampfte auf die Bremse und brachte den Wagen, der auf der sandigen Strasse nach links und rechts ausbrach, nach lĂ€ngerem Rutschen zum Stehen.
“Steigen Sie aus! Sofort!” Der Fahrer starrte den Fremden mit panischem Blick an. Dieser erwiderte den Blick erstaunt.
“Es, es tut mir Leid, Señor. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich meine, ist alles in…”
“Raus! Sofort!”
“Aber Señor, gestatten Sie mir wenigsten, Ihnen die Fahrtkosten zu vergĂŒten.”
Der Fahrer blickte das erste Mal auf seine Taxiuhr. Ein Schauer durchfuhr seine Glieder.
“Das ist nicht möglich. Das ist nicht möglich”, stammelte er. “Das, das ist…, wie…, wo…, das ist nicht möglich?”
Der Regen hatte aufgehört. Dunkle Wolken belagerten den Himmel, als das Taxi in Richtung Horizont davon raste.
Der Fremde blickte dem davonfahrenden Auto nach und strich sich mit der linken Hand durch seinen schwarzen, spitz zulaufenden Schnurrbart. Er griff in seine Hosentasche und nahm eine goldene Schachtel hervor. Aus dieser nahm er eine braune Zigarillo, zĂŒndete sie an und zog genĂŒsslich daran. Mit einer grazilen Bewegung nahm er die Zigarillo aus dem Mund, blies den Rauch aus und schmunzelte.
“Ich will Ihre Geschichte nicht hören, ich will Ihre Geschichte nicht hören”, mimte der Fremde eine mĂ€dchenhafte Stimme und verwarf seine linke Hand mit der Zigarillo leicht nach hinten. “Dabei, Hernando Corbas, kennst du die Geschichte schon lĂ€ngst. Und nun renn und verkĂŒnde ihr die frohe Botschaft.”
Wie der Nachruf des vergangenen Schauers erklang es. Zuerst nur einmal. Dann deren drei. Und es dauerte, dass man sich den den kalten Schweiss von der Stirn wischt, bis der Fremde herauslachte. Laut und schrecklich. Er lachte und lachte. Und sein Lachen hallte durch den Olivenhain und verlor sich am Horizont, der wie ein böser Traum den Tag verdunkelte.